Freitag, 5. April 2013

Briefe

Es gibt so Dinge im Leben, die einen besonders glücklich machen.

Ich habe einige solche Dinge: das Geräusch von Sand, der unter meinen Füßen quietscht, weil er so fein ist, Möwen, ein Cappuccino morgens in irgendeinem kleinen Kaffee irgendwo in Italien in der Morgensonne, die Umarmung meiner Mutter, ein richtig gutes Carpaccio (irgendwann fahre ich in Harry's  Bar in Venedig und koste das Original) und der Moment, wenn ich meinen Briefkasten öffne und einen handgeschriebenen Brief, an mich adressiert, in ihm finde.

Diese Liebe zu handgeschriebenen Briefen habe ich schon sehr lange. Es fing irgendwann an, als ich 11 oder 12 war, damals schrieben meine Freundinnen und ich uns Briefe, nachmittags, wenn wir uns nicht sahen und gaben sie uns am nächsten Morgen in der Schule, eine zeitlang habe ich meine Briefe an sie (lang bevor es normal war, dass jeder einen Computer zu hause hatte) mit der alten mechanischen Schreibmaschine meiner Mutter geschrieben, eine weiße Kofferschreibmaschine mit schwarzen Tasten, die man noch kräftig runterdrücken musste und die bei jedem Zeilenwechsel ein "Pling" von sich gab, das war viel lässiger, als mit der Hand zu schreiben, damals saß man noch nicht stundenlang am Tag vor einer Tastatur... Und dann mit 13 zog ich fort von meinen Freundinnen und es gab noch keine E-Mails und kein Facebook und kein Skype und selbst das telefonieren war noch teuer und in der kleinen Wohnung in der wir lebten, hatte man nie eine Sekunde für sich allein, um in Ruhe zu telefonieren (um die wirklich wichtigen Dinge, die einen mit 13 so beschäftigen, zu besprechen). An dem Tag, an dem wir 700 km von meinen Freundinnen wegzogen, fing ich an, an sie zuschreiben, nach dem die Tränen getrocknet waren, was sehr lange dauerte, der Brief an sie wurde noch länger.

Von dem Tag an, verging kein Tag, an dem ich ihnen nicht geschrieben hätte. Ich schrieb ihnen drei zusammen, sie antworteten jede für sich. In den ersten anderthalb Jahren in dem neuen Ort hatten wir noch keinen eigenen Briefkasten und wir mussten unsere Briefe in der kleinen Post im Ort abholen. Jeden Tag bin ich hingegangen, die Angestellten kannten mich sehr schnell und ich musste nur den Kopf durch die alte Holztür stecken und entweder lachten sie mich an und griffen hinter sich in das Fach und gaben mir einen oder manchmal sogar zwei Briefe oder manchmal schüttelten sie auch den Kopf und ich sah ihnen an, dass auch sie ein wenig enttäuscht waren.  Aber tatsächlich war fast jeden Tag ein Brief für mich da. Wundervolle, lange, bunte Briefe, mit ganz viel Freundschaft und Liebe drin und ganz viel zu Hause, das mir so sehr fehlte.
Schon auf dem Heimweg riss ich die Umschläge auf und der Heimweg war oft dreimal so lang, wie der Hinweg, weil ich vertieft war in mein zu Hause, der neue Ort um mich herum, verlor sich in den Zeilen, das Heimweh und das Fremde und die Einsamkeit verflüchtigten sich zwischen den Seiten und den einzelnen Worten.

Diese Briefe haben mich so glücklich gemacht, haben mir Halt gegeben in einer so haltlosen Zeit.

Und ich schrieb ihnen zurück, jeden Tag, ewig lange Briefe, der längste hatte 58 Seiten, in drei Tagen geschrieben. Ich weiß nicht mehr was ich geschrieben habe, alles was in meinem Kopf vorging. Was in einem 13 Jährigen Mädchen so vor sich geht. Es ging nicht um den Inhalt, es ging darum, das zu teilen, was wir nicht mehr teilen konnten, jeden Tag, den wir zu vor miteinander verbracht hatten. An dem ich nun nicht mehr teilnehmen konnte. Die kleinen, unbedeutenden Dinge und die großen, wichtigen Dinge, als sich die eine Freundin zum ersten Mal verliebte, der erste Kuss, von uns allen, die erste Liebe, der erste Herzschmerz, das was Freundinnen sich abends, wenn sie zusammensitzen erzählen. Diese Briefe gaben mir das Gefühl, doch noch dabei zu sein, auch wenn ich nicht mehr dabei war. Der Brief von C., der über und über mit Herzchen bemalt war, weil sie so verliebt war oder ganz großartig, der Bresso-Klecks auf einer Seite auf einem Brief von A., den sie umkringelte und dranschrieb "ich ess grad Brötchen mit Bresso drauf! Sehr lecker!" und ich einfach nicht mehr aufhören konnte zu lachen. So sehr, dass ich mich heute, fast zwanzig Jahre danach immer noch daran erinnere.
Und so waren die Briefe, als wenn ich neben ihr sitzen würde, während sie ihr Bresso-Brötchen ass und wir über irgendetwas so in Lachen ausbrachen - bis der Kakao in die Unterhose läuft, aber das ist wieder eine andere Geschichte - so war das, diese Briefe zu lesen.

Alle diese Briefe habe ich noch und ich könnte mich niemals von ihnen trennen. Von allem könnte ich mich trennen, nur davon nicht.

Viel Zeit ist seit dem vergangen, die Zeiten haben sich verändert, man schreibt sich E-Mails oder chattet, was seine Vorteile hat, weil es schneller geht und man eigentlich näher dran ist. Aber für mich ist es nicht vergleichbar. Man ist viel näher, wenn man ein Blattpapier in den Händen hält, auf dem geschrieben steht in der Handschrift eines geliebten Menschen, was derjenige denkt und fühlt. Die Handschrift des anderen sieht, sieht ob der Brief in Eile, in Aufregung, in Ruhe oder mit Bedacht geschrieben wurde. Das selbe Papier in den Händen zu halten, das auch der Schreiber in den Händen hielt. Es hervorgeholt hat, einen Stift mit dem er gerne schreibt, sich hingesetzt hat und sich die Zeit genommen hat, an einen und über einen nachgedacht hat. Einen Briefumschlag gesucht, die  grausige Briefmarke angeleckt - auch so etwas was es heute nicht mehr gibt, heutezutage kleben alle Briefmarken von allein, wie schade... nach dem ganzen Schreiben und der Mühe war es so ein schöner Abschluss, dieses grauselige Ding anzulecken und auf den Brief zu kleben, ich werde nie den Geschmack und das Gefühl vergessen - aber man klebt die Briefmarke immer noch auf den Brief und dann ist er fertig. Dann kann er auf seinen Weg gehen, mit dem Wissen, dass er am Ende seines Weges jemanden sehr glücklich macht. Das alles ist soviel schöner, als einfach nur auf den Button "senden" zu drücken.

Viel Zeit ist seit dem vergangen. Selten macht man den Briefkasten auf und findet dort einen handgeschriebenen Brief für sich. Aber wenn, dann ist das Gefühl unbeschreiblich. Menschen, die mich im Fahrstuhl den Brief aufreißend sehen würden, mit einem Lächeln im Gesicht, dass so breit ist, dass man denken könnte es ist ein misslungener chirugischer Eingriff, könnten denken, irgendwelche Drogen wären in diesem Brief. Und vielleicht ist es auch so etwas wie eine Droge, eine Droge, die sehr sehr glücklich macht. Mich.

Probiert es einmal wieder aus. Setzt euch hin und schreibt einen Brief an einen geliebten Menschen, egal, ob er nah oder fern ist. Darauf kommt es nicht an, es kommt auf euer Gefühl an, wenn ihr den Brief schreibt und abschickt und die Freude, bei dem, der ihn bekommt.

Ist gar nicht schwer, Menschen glücklich zu machen.

m.

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