Montag, 18. April 2016

dreiundsechzig

nach langem mal wieder ein post. nach langem mal wieder ein post über die liebe.

über die liebe zweier menschen, die nie liebe war, aber doch dreiundsiebzig jahre hielt.

dreiundsechzig jahre. eine fast unvorstellbare zeit. sollte ich gegebenfalls meinen traummann morgen kennenlernen und sollten wir dreiundsechzig jahre beieinander bleiben, muss ich kurz den taschenrechner rausholen, wie alt ich dann wäre: 99. Ich müsste also 99 jahre alt werden, um so lang mit dem mann meiner träume, ab morgen zusammen sein zu können. mit den mitteln der modernen medizin und statistisch betrachtet, müsste ich dann wohl morgen einen 31 jährigen kennenlernen (weil männer statistisch eine 5 jahre kürzere lebenserwartung haben, als frauen, sollte wikipedia da recht haben) - grossartige idee - morgen laufe ich durch die welt und frage jedes männliche wesen, wie alt es ist, sollte einer "31" antworten, mache ich ihm einen heiratsantrag. perfekt. das ist mal ein konkreter plan! alle anderen parameter ausser acht lassen und auf das wesentliche konzentrieren. und dann gemeinsam gesund ernähren und alt werden. 99 und 94.

meine tante ist 80. am samstag hat sie ihren mann verloren, nach 63 jahren. sie haben geheiratet, da war sie 17. ihr erstes kind war auf dem weg. es war mitten im krieg. ihr zuhause war gerade zerbombt worden. ihre mutter war gerade gestorben. und sie war 17 und er hatte schöne haare und war ein toller typ. viel mehr wusste sie über ihn nicht, nur dass sie sein kind in ihm trug und es kein zuhause, keine mutter (der vater war schon lange gestorben) mehr gab.
geküsst. richtig geküsst, hatten sie sich eigentlich nie, auch nicht am anfang. es war eher so eine schnelle nummer, von der sie sich liebe versprach und er, wahrscheinlich eine schnelle nummer. aber die zeiten und das leben waren so, sie heirateten. das zweite kind kam. hamburg wieder aufbauen, das leben aufbauen, arbeiten und die kinder am leben erhalten, so lange stillen, wie es irgendwie möglich war - nicht was schicklich oder im trend war. sondern nahrung, überleben. tapfer und schön war sie. alte fotos bezeugen es, wie schön sie war. als ich auf die welt kam, war sie schon 45. aber immer noch eine schöne frau. und ganz viel lachen. wenn meine tante lacht, dann lachst du nicht, worüber sie lacht, sondern du lachst mit ihr, weil ihr lachen so ansteckend ist.

eine erinnerung an sie, hat sich festgebrannt in mir. ich war 15. sie 60. ich war zu besuch in hamburg und wir gingen das erste und einzige mal zusammen ins kino. wir schauten "die brücken am fluss" (für die jenigen, die den film nie gesehen haben, anschauen. mehr gibt es dazu nicht zu sagen.) und wir haben zusammen rotz und wasser geheult. und wir gingen aus dem kino raus und sie schaute meine verheulten augen an und sagte zu mir: du kannst dir das gar nicht vorstellen, und ich wünsche dir, dass du es dir nie vorstellen kannst, wie es ist, nie wirklich geliebt zu haben. noch nicht einmal für 4 tage." und in diesem moment offenbarte sich mir ganz viel von dieser frau. ihrem gesamten leben. ihrem innersten, ihrer sehnsucht. und ich bin vielleicht in diesem moment gewachsen. etwas in mir, hat sich verändert. diese simple wahrheit, ausgesprochen, nach einem kino besuch,

und heute, 20 jahre später, hat meine tante immer noch nie richtig geküsst in ihrem leben. aber sie trauert um ihren mann. mit dem sie 63 jahre verheiratet war.

ich habe jetzt lange über den wortlaut nachgedacht, erst wollte ich schreiben: der 63 jahre an ihrer seite war. der 63 jahre bei ihr war. - all diese romantischen beschreibungen. aber nein, das wäre falsch gewesen. denn er war 63jahre nicht an ihrer seite oder bei ihr. er war da. und sie war mit ihm verheiratet. aber er war ihr keine stütze, kein begleiter. er war - meistens - da. und sie war immer mit ihm verhieratet und sie war ihm immer treu. aber ich erinnere mich an situationen, in denen sie lachte und er blaffte: lach nicht so laut. oder sie mit meiner mutter telefonieren wollte (die ihre beste freundin ist) und sie es nicht durfte. weil er es ihr verboten hat. er hat ihr so viel von ihrer freude und fröhlichkeit genommen und ihrem leben.

aber er hat ihr auch zwei kinder geschenkt, die sie über alles liebt. und sie war 63 jahre verheiratet.
und jetzt ist er gestorben und ich trauere nicht über ihn. ich bin traurig darüber, dass sie traurig ist, dass sie in ein loch fällt. dass sie nicht weiss, wie sie leben soll, ohne den mann, mit dem sie 63 jahre verheiratet war. und ich kann es verstehen. ich kann verstehen, warum ihr leben gerade den halt verliert, der nie halt war. die fugen auseinander brechen, die nie eine wand waren. aber sie hat 63 jahre lang den halt erfunden und die fugen säuberlich gekittet. hatte leiser gelacht, weniger telefoniert. das waren bahnen, in denen sie gelebt hat. seit 63 jahren.

ich werde hinfahren, in drei wochen, mit meiner mutter. und heute habe ich ihr geschrieben, dass wir kommen und drei flaschen wein mitbringen, für jeden eine. und wir dann tun, was auch immer, wir tun wollen. und ich hoffe, wir heulen rotz und wasser. über das leben und das was es uns beschert. und wir werden uns taschentücher reichen. und ich kann ihr erzählen, wie es ist, geküsst zu werden von einem mann, der einen wirklich liebt und den man selber wirklich liebt. vielleicht nicht 63 jahre lang, aber eine zeit lang. und vielleicht spreche ich von erotischer anziehung und sie kann mir von wirklicher liebe berichten, wie es ist, den menschen zu verlieren, der 63 jahre lang, dein mann war.
und wir werden weinen - oder rotz und wasser heulen. und dann werden wir lachen. über rotznasen. und ich werde etwas lernen, wieder, für mein leben. und ich werde sie halten, in meinen armen. und hoffen, dass sie noch ein paar jahre hat, in denen sie so laut lachen kann, wie sie will und so lang mit meiner mutter telefonieren kann und mit mir, wie sie will. ein paar jahre,

mit träumen, von richtigen küssen.